“Wie viele Kanadier haben wohl bereits einen Grizzlybären in freier Wildbahn gesehen?“ Das ist eher eine theoretische Frage, aber Doug Davis hat hier einen Punkt. Auch wenn Kanada für seine immens weitläufigen Wildnisgebiete bekannt ist, haben noch nicht viele Kanadier einen Grizzlybären in seinem natürlichen Lebensraum gesehen. Immerhin wohnen die meisten von uns in Städten Nahe der Grenze zu den USA, und wir sind eher daran gewöhnt, nach einem Starbucks Ausschau zu halten als nach einem Bären.
Davis dagegen geht ständig zum Bären beobachten, dem sog. Bear Watching. Als Kapitän bei Prince Rupert Adventure Tours nimmt er seit über 25 Jahren jeden Sommer Besucher mit ins Khutzeymateen Grizzly Sanctuary und hilft Neulingen wie mir, Bären zu entdecken. Ich habe den Verdacht, dass er den Ausdruck auf meinem Gesicht bereits kennt: Es ist die gleiche Mischung aus weit aufgerissenen Augen und vor Ehrfurcht offen stehendem Mund, die ich auf den Gesichtern meiner Mitreisenden beobachte, die aus Deutschland, Australien, den USA und Großbritannien gekommen sind — viele davon nur, um diesen Moment zu erleben.
Ich war nicht sicher, was mich erwarten würde, als ich mich von Prince Rupert aus auf diese Bear Watching-Tour begab. Wie es sich herausstellte, ist es nicht das gleiche, einen Bären in der Wildnis zu sehen oder einen Bären im Zoo. Diese Erkenntnis ist jetzt nicht wirklich verwunderlich, aber ich wurde dennoch überrascht von der Gefühlswelle, die das Erlebnis in mir auslöste.
Einen Teil dieser Ehrfurcht macht ganz sicher die Umgebung aus: Das Khutzeymateen ist Wildnis pur — ein 44.300 Hektar großes Gebiet, das 1994 als Kanadas erstes Schutzgebiet für Grizzlybären ausgewiesen wurde. Erreichbar ist es nur per Boot oder Wasserflugzeug, und mit seinen über 2.000 Meter hohen, schroffen Gipfeln, die auf ein Tal voller Feuchtgebiete, uralter Kaltregenwälder und einer breiten Flussmündung herabschauen, fühlt es sich an wie ein Stück Paradies auf Erden. Ein großer Teil der Landfläche um einen Fjord herum weist eine hohe Dichte an Grizzlybären auf, die von den Pazifiklachsen, die in den Flüssen laichen, und den proteinreichen Seggengräsern angezogen werden.
Davis erklärt, dass die etwa 50 Bären im Khutzeymateen dazu neigen, ihr ganzes Leben in demselben Gebiet zu verbringen; die Männchen werden etwa 25 Jahre alt, die Weibchen leben ungefähr 35 Jahre. Und er konnte sie im Laufe der Jahre kennenlernen, indem er sie aus der Ferne beobachtete. Davis erkennt einzelne Bären anhand ihres Aufenthaltsorts und von Markierungen, wie etwa einer Narbe an der Stirn. “Den da drüben nannten wir Big Ears,” sagt er, als er auf ein großes Exemplar deutet, „solange, bis er aus- und quasi in seine Ohren hineingewachsen war.”
Von der Brücke aus hält er mit seinem Fernglas immer wieder Ausschau nach Tieren; auch nach Meeresbewohnern: Wir hatten das Schutzgebiet überhaupt noch nicht erreicht, da drosselte Davis die Geschwindigkeit, um uns auf Robben, zwei Buckelwale und eine Schule aus fünf Orcas aufmerksam zu machen; und im ruhigen Gewässer innerhalb des Schutzgebietes entdeckte er dann den ersten Bären des Tages.
Der Bär war noch relativ weit vom Strand entfernt, sodass es ein wenig war, wie bei einem Madonna-Konzert: Du bist aufgeregt, weil du sie live siehst, aber musst auf die Großleinwand schauen, um Dich zu vergewissern, dass sie es auch wirklich ist. Als das Tier dann vor mein Fernglas trat, war es nicht so, wie ich erwartet hatte. Dieser Bär war muskulös aber knochig und irgendwie…zerzaust. “Es ist ein Männchen”, merkte Davis an. “Sie vernachlässigen sich, weil gerade Brunftzeit ist.” Die männlichen Bären sind nämlich so darauf konzentriert, zum Paaren zu kommen, dass sie weniger fressen, und sie reiben sich bei den Kämpfen um die weibliche Gunst auf. Es war unglaublich aufregend, dem Bären dabei zuzusehen, wie er das Seggengras kaute und langsam über den Strand tapste.
Wir haben an diesem Tag noch weitere Männchen gesehen, aber das absolute Highlight war die Bärenmutter mit ihren drei Kindern. Dieses Mal waren wir näher am Ufer — etwa 30 Meter — und sahen zu, wie sie auf einem Felsvorsprung zwischen Bäumen und Ufer entlang ging, der Nachwuchs, mit Abstand zwar, aber wie aufgereiht hinter ihr her. Die Bärenfamilie war nah genug, um sie mit bloßem Auge zu sehen, aber das Fernglas ermöglichte es mir, einige erstaunliche Einzelheiten zu entdecken: Diese langen, starken — und so scharfen — Fußkrallen. Und diese goldigen runden Ohren! (Der Grizzlybär, so hat mir Davis später erklärt, stand Pate für den Teddybären.)
An diesem Tag waren etwa 90 Personen an Bord, und trotzdem war es mucksmäuschenstill an Deck, während wir für eine halbe Stunde wie angewurzelt da standen und gedanklich versuchten, die Bären in unser Blickfeld zu bewegen. Wir waren ja zuvor über die Verhaltensregeln beim Bear Watching informiert worden: Ruhig bleiben, Blitzfunktion am Foto ausschalten, kein Essen an Deck, um die Bären weder zu stören noch ihr Verhalten Menschen gegenüber zu verändern. Jetzt könnte man annehmen, dass es ein großes Gerangel um die besten Plätze an der Reling gegeben haben müsste, aber es herrschte Großzügigkeit: Die Leute rotierten und machten Platz, damit andere besser sehen konnten, und boten Fremden ihr Fernglas an. Es war so, als ob jeder einzelne von uns die Einzigartigkeit dieses Erlebnisses erkannte und wir alle daran teilhaben lassen wollten.
Als das Muttertier ins Meer watete, schaute sie zurück, um sicherzugehen, dass die Kinder ihr folgten. Sie hielten sich zurück, waren zögerlich, sodass die Bärenmutter letztendlich wieder umdrehte, zu ihnen zurück ging und sie vom Strand weg lotste. Dieses Bild strahlte eine solche Ruhe und Sanftheit aus, dass es die Seele berührte.
“Grizzlybären sind nicht diese großen, grausamen Tiere, wie die Menschen sie sich vorstellen”, sagte Davis später zu mir. Und tatsächlich, wenn man sie in ihrer natürlichen Umgebung sieht, stellt man fest, dass sie sogar eher klein sind – nicht im Verhältnis zum Menschen aber zur Natur.
Als das Boot vom Ufer abdrehte, wurden die Bären zu immer kleineren Punkten in der Landschaft, bis sie komplett in der Unendlichkeit dieser Wildnis verschwanden. Zurück blieben nichts als Wald und Meer, so weit das Auge reichte. Es war beinahe so, als hätte man die Einstellung einer Kamera geändert und würde von oben auf die Erde blicken, und es war wunderschön. Ich war nicht die einzige Person auf dem Boot mit feuchten Augen, und das lag sicher nicht am Nieselregen. Einen Bären in der Wildnis zu beobachten, ist ein grundlegendes, gewaltiges Erlebnis. Es führt Dich weit weg von der Stadt und nahe heran an die wirklich wichtigen Dinge.
Khutzeymateen Provincial Park ist einer von vielen Orten in BC, an dem Du Bären beobachten kannst. Das Schutzgebiet ist Teil des Great Bear Rainforest, der eine Vielzahl an Möglichkeiten bietet, die Natur zu erleben. Und gleich hier findest Du die besten Orte zum Bear Watching in BC.
Dieses Video zeigt einen anderen Blickwinkel auf Bären in BC. Mike Willie, Hereditary Chief der Musgamakw Dzawada’enuxw First Nation, erzählt von der Verbindung seines Volkes zu dem Land und den Tieren nahe des Broughton Archipels vor Vancouver Island.
Wenn Du in BC wandern, Radfahren oder zelten gehst, befindest Du Dich fast immer in Bären-Gebiet. Es ist also wichtig, dass Du Dich vorab informierst, entsprechend vorbereitest und die Augen offen hältst. Wildsafe BC ist eine großartige Informationsquelle, die Dir dabei helfen kann, böse Überraschungen zu vermeiden. Halte grundsätzlich mindest 30 Meter Abstand von Wildtieren; bei Raubtieren, wie beispielsweise den Bären, sollten es mindestens 100 Meter sein. Die sicherste Art der Bärenbeobachtung — sowohl für den Menschen als auch für die Tiere — ist gemeinsam mit einem erfahrenen Guide.
Titelbild: Eine Grizzly-Mutter und ihre drei Kinder im Khutzeymateen Grizzly Sanctuary. Foto: Andrew Strain